Die zwei Linien des Lebens
Wer sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Wofür und warum leben wir?
Nichts weiß der arme „Mensch“ - mehr noch, er weiß darüber hinaus nicht einmal, dass er nichts weiß!
Am schlimmsten aber ist die so schwierige und so eigenartige Situation, in der wir uns befinden - wir
wissen nichts über den Ursprung all unseres Leides und sind dennoch überzeugt, alles zu wissen ...
Wir sind zu 100 % unwissend, denken von uns selbst immer das Beste, glauben durch den Besuch des
Kindergartens, der Volksschule, der Universität, durch die Reifeprüfung, das Ansehen des Vaters und
so weiter bestens entfalten zu können.
Leider wissen wir nur zu gut, dass uns, trotz Studium, guter Manieren, akademischer Grade und
materieller Besitztümer schon ein kleiner Magenschmerz deprimiert und wir im Grunde armselig und
unglücklich sind.
In erster Linie zählt natürlich die Wesensart eines jedes Menschen: Einige werden Alkoholiker, andere
abstinent, jene sind ehrlich, andere unverschämt - alles gibt es im Leben ...
Die Masse bildet sich aus der Summe der Einzelnen. Wie der Einzelne, so die Masse, das Volk, die
Regierung ...
Die Masse ist also die Ausdehnung des Individuums - ein Wandel der Massen oder eines Volkes ist
daher nur möglich, wenn sich jeder einzelne Mensch wandelt.
Niemand kann leugnen, dass es unterschiedliche soziale Schichten gibt - Priester, Dirnen,
Geschäftsleute, Bauern und so weiter ...
Genau so gibt es auch die verschiedenen Seinsstufen. Unsere inneren Wesenszüge - freigiebig oder
knauserig, großmütig oder kleinlich, gewalttätig oder friedfertig, keusch oder wollüstig - ziehen auch
die verschiedenen Umstände unseres Lebens an ...
Arme Menschen! Sie wollen sich ändern und wissen nicht wie, sie kennen den Weg nicht und stecken
in einer Sackgasse ...
Was ihnen gestern widerfuhr, passiert ihnen heute und morgen, sie wiederholen die gleichen Fehler
und lernen nichts aus den Lehren des Lebens ...
Alles wiederholt sich in ihrem Leben, sie sagen das Gleiche, wiederholen das Gleiche, beklagen sich
immer über dasselbe ...
Alle Dinge oder Ereignisse, die um uns herum auf der Bühne des Lebens geschehen, sind nur der
äußere Ausdruck unseres inneren Zustands ...
Mit Fug und Recht können wir daher behaupten, dass das „Äußere das Spiegelbild des Inneren“ ist.
Wenn man sich innerlich wahrhaftig und radikal ändert, ändern sich auch die äußeren Umstände,
ändert sich das ganze Leben.
Was ist nun unsere Seinsstufe? Haben Sie irgendwann einmal darüber nachgedacht? Um eine höhere
Seinsstufe zu erreichen, müssen wir zuerst unseren eigenen Zustand klar erkennen.
An diesem Punkt des Kapitels angelangt ist es angebracht, wenn wir uns eine senkrechte, von unten
nach oben aufsteigender Leiter mit unzähligen Stufen vorstellen ...
Zweifellos befinden wir uns auf einer dieser Stufen; auf den Stufen unter uns wird es schlechtere und
auf den Stufen über uns bessere Menschen geben als wir es sind ...
Wir können also auf dieser Vertikalen, auf dieser wunderbaren Leiter, ohne Zweifel alle Seinsstufen
finden. Jeder Mensch ist anders, niemand wird das in Abrede stellen ...
Aus dem vorhin Gesagten ersehen wir, dass sich in uns ein mathematischer Punkt befindet ...
Ohne Frage befindet sich dieser Punkt weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft.
Wer diesen geheimnisvollen Punkt entdecken will, muss ihn hier und jetzt suchen, in sich selbst, in
diesem Augenblick, nicht eine Sekunde früher und keinen Moment später ...
Die beiden Balken des Heiligen Kreuzes, der senkrechte und der waagrechte, treffen sich ebenfalls
genau in diesem Punkt ...
So befinden wir uns also von Moment zu Moment vor zwei Wegen: dem waagrechten und dem
senkrechten ... Es liegt auf der Hand, dass der Weg der Waagrechten der ausgetretene Weg des
Alltags ist, dem Hinz und Kunz folgen ...
Der Weg der Senkrechten ist ohne Zweifel anders - es ist der Weg der intelligenten Rebellen, der
Andersdenkenden ... Wenn man sich an sich selbst erinnert, an sich selbst arbeitet und sich nicht mit
allen Problemen und Leiden des Lebens identifiziert, geht man in der Tat auf dem senkrechten Pfad.
Sicherlich, es ist keine leichte Aufgabe, die negativen Emotionen auszumerzen und jede Identifizierung
mit unserem Alltag, unseren diversen Problemen, unseren Geschäften, Schulden, Zahlungen,
Hypotheken, Rechnungen und so weiter zu vermeiden ...
Leidende, Weinende, Opfer eines Verrats oder einer Treulosigkeit, einer Undankbarkeit, Verleumdung
oder eines Betrugs vergessen sich selbst, ihr wahres inneres Sein, und identifizieren sich völlig mit
ihrem Problem.
Das grundlegende Merkmal des senkrechten Weges ist die Arbeit an sich selbst. Niemand wäre im
Stande, den Pfad der Großen Rebellion zu beschreiten, wenn er nicht an sich selbst arbeiten würde ...
Die Arbeit, von der wir hier sprechen, ist psychologischer Art. Es handelt sich dabei um eine gewisse
Veränderung des gegenwärtigen Augenblicks, in dem wir uns befinden. Wir müssen lernen, von
Augenblick zu Augenblick zu leben ...
Ein Mensch, der zum Beispiel aufgrund emotionaler, wirtschaftlicher oder politischer Probleme
verzweifelt, hat sich offensichtlich selbst völlig vergessen ...
Wenn nun dieser Mensch einen Augenblick innehält, die Situation betrachtet und versucht, sich seiner
selbst zu erinnern und sich bemüht, die Gründe seiner Haltung zu verstehen ...
Wenn er ein wenig nachdenkt, sich daran erinnert, dass alles vorbeigeht, dass das Leben eine flüchtige
Illusion ist und dass der Tod alle Eitelkeiten des Lebens zu Asche macht ...
Wenn er schließlich begreift, dass sein Problem nur ein „Strohfeuer“ ist, einem Irrlicht vergleichbar,
das schnell wieder verlöscht - dann, ja dann, wird er plötzlich überrascht feststellen, dass sich alles
geändert hat.
Mechanische Reaktionen können mit Hilfe der logischen Gegenüberstellung und der inneren Selbst-
Reflexion des Seins umgewandelt werden.
Samael Aun Weor